Ist sie tot oder quicklebendig? Ist es Wahrheit oder Wunschdenken? Während es seit Jahren kein Lebenszeichen von Muammar al-Gaddafis mondäner Tochter Aisha gab, hat sie jüngsten Berichten zufolge inzwischen die Führung des libyschen Widerstands übernommen. Stehen die Gaddafis also vor einem Comeback? Werden die NATO-Rebellen in Libyen schon bald von Aisha Gaddafi verjagt?

Es war eine Hinrichtung, so recht nach Hillary Clintons Geschmack. Am 20. Oktober 2011 wurde der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi aus einem Abwasserkanal in der Nähe seiner Heimatstadt Sirte gezerrt und grausam gelyncht. Unter anderem soll ihm eine Eisenstange ins Rektum gerammt worden sein.
»Wow!«, sagte Clinton, als ihr jemand ein Handy mit der Todesnachricht reichte. »Wir kamen, wir sahen, er starb«, freute sich die heutige Präsidentschaftsanwärterin lachend.
Die Gaddafis im Visier
Im Jahr 2011 hatten die USA in Libyen eine Revolution inszeniert und das Land anschließend im Zuge einer NATO-Operation plattgebombt. Denn Gaddafi hatte gleich mehrere Fehler begangen. Nicht nur, dass er in Libyen eine Art »Schweiz Nordafrikas« errichtet hatte ‒ mit beispiellosen Sozialleistungen und ebensolchem Wohlstand. Darüber hinaus plante er eine goldgedeckte Währung und stand auch dem Einsatz der Migrationswaffe gegen Europa im Wege: Sein Land funktionierte als »Flüchtlingsbollwerk«, das Millionen Migranten aus Afrika davon abhielt, nach Europa überzusetzen. Aber vielleicht waren das nicht einmal die Hauptgründe. Sondern es musste im Zuge der politischen und militärischen Zerstörung ganz Nordafrikas eben auch Gaddafi weg.
Im Visier befand sich die gesamte Gaddafi-Familie:
Die »Claudia Schiffer von Nordafrika«
Aber nicht alle Gaddafi-Nachkommen kamen ums Leben oder gerieten in Gefangenschaft. Seine einzige Tochter Aisha schaffte es am 29. August 2011 im hochschwangeren Zustand über die Grenze nach Algerien ‒ zusammen mit ihrer Mutter und ihren beiden überlebenden Brüdern Muhammad und Hannibal. Wegen ihrer Schönheit und ihrer blonden Mähne galt sie als »Nordafrikas Claudia Schiffer«.
Aber auch ihre Intelligenz war legendär. Sie studierte Jura im Westen und machte als Verteidigerin des irakischen Präsidentin Saddam Hussein von sich reden (nach seiner Festnahme durch die Amerikaner 2003). Mit US-gesteuerten Putschen und Lügenkriegen kannte sie sich also bestens aus. In der Folge brachte Aisha es sogar noch zur Ehrenbotschafterin des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, wo sie ab 2009 gegen die Ausbreitung von Aids und die Unterdrückung der Frau kämpfte.
Doch während des NATO-Krieges gegen Libyen 2011 ließen die UN Aisha Gaddafi fallen. Ihr Mann und zwei ihrer Kinder wurden während der Militäroperationen getötet.
Nur einen Tag nach ihrer Flucht nach Algerien am 29. August 2011 brachte sie eine Tochter zur Welt. Im Jahr 2012 soll sie zusammen mit anderen Familienmitgliedern Asyl in Oman gefunden haben.
»NATO ‒ weʼve got a problem«
Danach hörte man nichts mehr von ihr ‒ zumindest nicht im englischen Sprachraum. Bis Mitte Februar 2016: Seitdem macht plötzlich ein Revolutionsaufruf der Gaddafi-Tochter die Runde im Internet. »NATO ‒ weʼve got a problem«, meldete am 21. Februar 2016 sinngemäß das russische Nachrichtenportal Fort Russ: Nach vier Jahren des Schweigens habe sich Aisha Gaddafi aus Eritrea gemeldet. In einem Aufruf zum Widerstand an ihre Landsleute habe sie sich selbst zur »Mutter Libyens« erklärt.
Der größte libysche Stamm der Warfalla habe ihr bereits die Treue geschworen. Gaddafis Tochter sei dabei, eine neue »Geheimregierung« zu errichten, und werde den Widerstand gegen die NATO anführen, berichtete auch das militärische Nachrichtenportal southfront.org. »In einem entscheidenden Moment für das Land, am Vorabend einer neuen NATO-Intervention, wird Aisha
Gaddafi zum neuen Führer des Widerstands. Als Generalleutnant der libyschen Armee schwor sie ihrem legendären Vater die Treue und drängte die Libyer aufzuwachen, um zu gewinnen und die Jamahirija-Regierung [Herrschaft der Massen] wieder zu errichten.«
Aisha habe versprochen, in den nächsten Monaten eine »Geheimregierung berühmter und loyaler Libyer« zu errichten, die als Vermittler in Libyen und im Ausland fungieren werde. »Mein Name verpflichtet und berechtigt mich, in dieser Schlacht in vorderster Reihe zu stehen«, wird sie zitiert. Gerüchten zufolge kursiere dieser Aufruf in großen Städten Libyens. Außerdem werde Gaddafis Tochter in Kürze im lokalen Fernsehen auftreten. Gleichzeitig habe die NATO bereits eine Krisensitzung über die Situation in Libyen abgehalten.
Comeback der Gaddafis: Wahrheit oder Wunschträume?
Soweit, so gut: Aber ist das auch wirklich wahr? Sind sie tatsächlich wieder da, die Gaddafis? Oder sind das alles nur wilde Wunschträume derjenigen, die den Umsturz in Libyen noch immer nicht verkraftet haben? Denn schaut man sich den angeblichen Aufruf von Aisha Gaddafi an, steckt er voller Ungereimtheiten. Während sie dort beispielsweise als »Generalleutnant der libyschen Armee« bezeichnet wird, nennt sie die früheren libyschen Streitkräfte gleichzeitig »eine irre Mischung« von käuflichen Anarchisten.
Des Weiteren krankt der Aufruf an oberflächlicher politischer Analyse. Obwohl Gaddafis Tochter sehr genau wissen muss, wer den Sturz ihres Vaters letztlich organisierte, beschuldigt sie in ihrem Aufruf nicht die USA oder die NATO, sondern »al-Qaida-Terroristen«. Auch die in dem Papier geäußerte Gewissheit, die Rebellen hinwegfegen zu können, widerspricht der Tatsache, es in Wirklichkeit mit den größten Mächten des Planeten zu tun zu haben. Und schließlich ist auch eine öffentlich angekündigte Geheimregierung alles Mögliche ‒ nur nicht mehr geheim.
Asyl bei Großbritanniens engstem Verbündeten?
Des Weiteren würden die genannten Asylstaaten Algerien, Oman oder auch Eritrea einen Teufel tun und der Gaddafi-Tochter einen solchen politischen Spielraum gewähren ‒ es sei denn, sie wollten demnächst selbst die NATO oder die USA zu Gast haben. Laut Daily Mail vom 25. März 2013 (online) gilt das Sultanat Oman darüber hinaus als »Großbritanniens engster Verbündeter in der Golfregion«. Auch Eritrea, von wo der jüngste Gaddafi-Aufruf stammen soll, möchte bestimmt nicht die Aufmerksamkeit der amerikanischen Revolutions- und Kriegswalze erregen.
Viel wahrscheinlicher ist, dass der Gaddafi-Tochter in solchen Ländern nur unter der Bedingung strikter politischer und publizistischer Enthaltsamkeit Asyl gewährt werden würde ‒ wenn überhaupt. Dafür spricht, dass es seit 2012 kaum noch Lebenszeichen von Aisha Gaddafi gab. Damals appellierte sie noch an den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, den Tod ihres Vaters zu untersuchen. Aus dieser Zeit stammt auch das wohl aktuellste Foto. Seither gibt es im englischsprachigen Internet weder Interviews noch Fotos oder Videos von ihr.
Dabei hätte es doch nahegelegen, ihren Aufruf auch als Video zu veröffentlichen, um sich selbst als Führerin des Widerstands zu präsentieren. Und das wiederum müsste auch in englischsprachigen Medien Kreise gezogen haben. Die letzten Videos von Gaddafis einziger Tochter sind jedoch bereits Jahre alt. Auch Berichte von ihren jetzigen Lebensumständen sind äußerst dünn gesät ‒ wenn überhaupt vorhanden. Nicht einmal afrikanische Nachrichten-Websites wissen etwas Neues oder Näheres über Gaddafis Tochter zu berichten.
Letzte Hoffnung: Gaddafi
Berichte über ihren derzeitigen Aufenthaltsort gibt es nur indirekt und unbestätigt. Demnach soll ihr Bruder Hannibal am 15. Dezember 2015 in Syrien festgenommen und in den Libanon verschleppt worden sein (Viva Libya, online, 2. April 2016). Hannibal habe damals seit einem Jahr in Damaskus gelebt und wolle auch dorthin zurückkehren, so die Webseite.
Da Syrien ein letztes Widerstandsnest gegen die amerikanische Kriegsmaschine darstellt, könnte dies tatsächlich ein wesentlich logischerer Aufenthaltsort für die Gaddafis sein als Oman. Wahrscheinlich leben demzufolge auch seine Geschwister dort ‒ letztlich also unter dem Schutz der Russen. Ob Aisha Gaddafi wirklich den oben zitierten Aufruf verfasst hat, ist zwar mehr als fraglich. Aber wenn es sich nur um Wunschdenken handelt, hätte dies zumindest einen realen Hintergrund.
Denn was immer man von den Gaddafis halten mag: Tatsächlich wäre ihre Rückkehr die einzige Hoffnung für Libyen, das mit dem Sturz des »Revolutionsführers« seines einzig logischen Oberhauptes beraubt wurde. Nichts anderes als der Name Gaddafi scheint die Ordnung wiederherstellen und das Chaos beenden zu können. Nur dieser Name hätte die hypnotische, bündelnde und auch identitätsstiftende Wirkung, um die Libyer hinter sich zu vereinen …
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Gerhard Wisnewski
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