Westliche Propaganda-Experten sind entsetzt. Medien und Bürger in Deutschland sind ihnen zu russlandfreundlich und amerikakritisch. In ausführlichen Analysen setzen sich die Hardliner mit Zeitungen, Zeitschriften aber auch Fernsehsendungen auseinander. Dem Autor wurde jetzt ein internes Dokument zugespielt, in dem die Propagandisten die Talkshow von Maybrit Illner vom 28. August 2008 auseinandernehmen. Das Urteil fällt vernichtend aus.
»Das irritierende Phänomen war schon während der Olympischen Spiele zu beobachten«, beginnt das Papier: »Diktaturen üben eine große Faszination aus – auch in der westlichen Welt; nicht zuletzt bei jenen Intellektuellen, die Humanismus und Aufklärung mit der Muttermilch aufgesogen haben. Während man zu Hause jede vorbeugende Datenspeicherung als Vorboten eines digitalen Faschismus brandmarkt, sieht man in China auch über brutalste Menschenrechtsverletzungen hinweg.«
Gegen China ist Wolfgang Schäuble also bloß so eine Art totalitärer Gartenzwerg.

Ja, es gebe regelrechte »China-Versteher«. Und die bedienten sich »eines beliebten Tricks, der den moralischen Relativismus politisch-historisch zu begründen vorgibt«. Soll heißen: Doppel-Moral. »Erstens«, so referiert das Papier die Tricks der China-Versteher, »müsse man China so viel Zeit geben wie dem europäischen Abendland, also mindestens noch 300 Jahre. Und zweitens sei der Westen ja auch kaum besser. Schon gar nicht Amerika, der wahre Hort des Bösen. Obama hin, Obama her.«
Deutlich erkennt man bereits die Rolle des moralischen Strohhalms oder Make Ups, die der amerikanische »Hoffnungsträger« Barack Obama spielen soll. Verbittert nehmen die Propagandisten zur Kenntnis, dass diese neue Propagandawaffe verpufft und dass Amerika trotzdem (Obama hin, Obama her) »als Hort des Bösen« gesehen wird.
»Nach der offen völkerrechtswidrigen Aggression Russlands gegen Georgien«, stellt das Papier die Realität auf den Kopf, »wiederholt sich das Phänomen: In unzähligen Leserbriefen, in Talkshows und Zeitungsartikeln wird dem neuen, skrupellosen Großmachtstreben Moskaus ganz unverhüllt Beifall gezollt oder wenigstens Verständnis entgegengebracht.«
Unerhört. Aber es geht noch weiter:
»Laut Umfragen gilt einer Mehrheit der Bürger im Zweifel Amerika gefährlicher als Russland. Selbst im Feuilleton der bürgerlich-konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) wandte sich jüngst ein Redakteur gegen die angeblich vorherrschende reflexhafte ›Russophobie‹ und mutmaßte dunkel über verborgene Interessen Amerikas und Israels.«
Nein – sind die Deutschen denn total durcheinander?

Wahrscheinlich: »Kein ›imperialistischer Wille‹ leite Putin und Medwedew«, zitiert das Papier die verwirrten Russophilen, »sondern allein die Absicht, ›für Sicherheit zu sorgen‹. Originalton FAZ: ›Wenn Russland wieder Einfluss gewinnt in ehemaligen Sowjetrepubliken und unter seinen Nachbarn, dann ist das ein Zeichen der Normalisierung.‹«
Kein Zweifel: Der Wahnsinn ist nah. Doch nun zu Illners Talkshow.
»Moskaus Muskelspiele – droht ein neuer Kalter Krieg?«, habe der Titel »der ersten Talkshow von Maybrit Illner nach der Sommerpause« gelautet. Der Kalte Krieg jedoch sei von der Runde gleich abgesagt worden. »Der einzige, der einen Eishauch Kalten Kriegs« verbreitet habe, sei der frühere Gesandte der sowjetischen Botschaft in der DDR, Igor Maximytschew, gewesen: »Wie eine Reinkarnation des hochfahrend beleidigten Sowjetmenschen polterte er gegen den Westen, gegen EU und Nato, verteidigte Putin und Medwedew und warnte schon mal die Ukraine vor einem Angriff auf Russland.«
»Wir stehen mit dem Rücken zur Wand«, habe er »in unfreiwilliger psychologischer Selbstoffenbarung« gesagt: »Seit Michail Gorbatschows unseligem Wirken, das zum Zerfall des Sowjetreichs geführt hatte, sei Russland auf dem – wir verstehen: schmachvollen – Rückzug.«
»Doch statt einer Belohnung durch den Westen werde man immer noch wie ein ›Aussätziger‹ behandelt«, zitiert das Dokument Maximytschew. Genau hier sei sie manifest geworden, »die große Kränkung des einst roten Riesenreiches, der tief sitzende Minderwertigkeitskomplex – das eigentliche Motiv der kaukasischen Racheaktion.«
Racheaktion? Nun ja, nachdem das US-gesteuerte und vielfach größere Georgien in Südossetien eingefallen war, dachte man sich bei der russischen Führung, es sei vielleicht besser, das Übel an der Wurzel zu packen und ein paar georgische Waffendepots auszuheben und militärische Infrastrukturen platt zu machen. Gar nicht so dumm, eigentlich.
Einzig und allein Marie-Luise Beck von den Grünen habe in der Talkshow »dankenswert offen auf Demokratie und Menschenrechten« beharrt. Natürlich nicht in Guantanamo, Afghanistan oder im Irak, wo die USA bereits Hunderttausende niedergemetzelt haben. Sonst wäre sie in dem Papier ja auch nicht lobend erwähnt worden. Sondern in Tschetschenien.
Ein weiterer Lichtblick aus Sicht der Propagandaexperten war der aus Tiflis zugeschaltete georgische US-Agent und professionelle Zündler Michail Saakaschwili. Er »nutzte die Gelegenheit und kritisierte ausführlich den ›lange geplanten‹ Angriff Moskaus wie die Vertreibung Hunderttausender Georgier aus Abchasien und Südossetien.« Dumm nur, dass Saakaschwili mit endlosen Monologen nervte. Naja, wenn das georgische Abziehbild von Josef Stalin schon mal die Chance hat, seine Botschaft vor einem westlichen Millionenpublikum loszuwerden, muss es die Gelegenheit eben auch nutzen.
»Keinesfalls dürfe es nun zur Anerkennung vollendeter Tatsachen kommen, ›zur Kapitulation vor dem Bösen‹«, zitieren die Propagandisten Saakaschwili. »Zwar sei die Moskauer Führung ›arrogant und irrational‹, doch für einen neuen Kalten Krieg habe sie ›gar nicht die Ressourcen‹.«
Und dann kommts: »Doch, wir sind ja schon im Kalten Krieg«, habe Peter Scholl-Latour darauf erwidert: »Er könnte sogar ›brisanter werden als der letzte‹, denn die Nato sei ›zu einem Kriegsinstrument gegen Russland geworden‹.«
»Da brandet Beifall auf im Studio«, vermerken die Kriegstreiber verbittert: »Ein klassischer Scholl-Latour, der seine antiamerikanischen Ressentiments inzwischen selbst beim Namen nennt, freilich nur, um sie anschließend zu bestreiten.« Prompt habe der Russe Igor Maximytschew sekundiert: »Nicht Russland, sondern Amerika betreibe Muskelspiele, siehe Osterweiterung der Nato und Raketenschild in Polen.«
Da war Feuer am Dach und Polen sozusagen offen. Nur die treue Marie-Luise Beck habe interveniert und sich sogleich eine Rüge des Russen eingehandelt. »Doch diese Art posttotalitärer Blitz und Donner hat etwas Anachronistisches, und wenn es auch nur eine Talkshow war, so spiegelte sie doch die augenblickliche Isolation Russlands eindrucksvoll wider«, trösten sich die Propaganda-Experten.
Und schließlich war da ja auch noch der ebenfalls anwesende, frühere Bundesverteidigungsminister Volker Rühe, der ganz locker behauptete: »Es gibt keine Einkreisung Russlands durch die Nato.«
»Dies sei eine neue Nato, die Freiheit und Stabilität schaffe.« Na, also – geht doch! Warum denn gleich den Kopf in den mit Uranmunition verseuchten Sand stecken! Nur der nihilistische Russe wollte mal wieder gar nichts glauben: »Auf Maybrit Illners Frage, wer ihm als künftiger Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika denn lieber sei, John McCain oder Barack Obama, antwortete er in altsowjetisch-Chruschtschow’scher Klarheit: ›Schwierige Frage. Beide sind schlecht.‹«
Womit er so verdammt Recht hat.
Nur ich habe ein bisschen geschwindelt. Nicht, dass das Papier nicht echt wäre. Es ist echt. Leider. Und wie! Nur zugespielt wurde es mir nicht. Solch scheppernde Propaganda muss man nämlich keineswegs auf finsteren Kanälen von Militärs und Geheimdiensten suchen, wo sie zweifellos auch kursiert. Nein, man kriegt sie ganz offiziell auf dem Internet. Wo? Natürlich beim Spiegel.
Copyright © 2008 Das Copyright für die Artikel von Gerhard Wisnewski liegt beim Autor.
Gerhard Wisnewski
c/o Kopp Verlag, Bertha-Benz-Str.
72108 Rottenburg a.N.