Das war’s dann wohl: Am 22. Oktober 2012 entzog der Weltradsportverband UCI dem siebenmaligen Tour-de-France-Sieger Lance Armstrong alle Titel ab dem 1. August 1998. Zwischen 1999 und 2005 hatte der Amerikaner als erster und bisher einziger Radsportler sieben Mal die Tour de France gewonnen. Wundern kann sich über diesen sagenhaften Aufstieg und Fall nur, wer vor den Mechanismen des Radsports die Augen verschließt. Denn schon an der Wiege dieser Disziplin wurden harte Drogen gereicht…
Lance Armstrong/Von Denkfabrikant
Nur Leistungen bringen Zirkus, nur Zirkus bringt Werbekunden, und nur die Werbekunden bringen Geld: Gerade die Tour de France watet nicht erst seit 2007 im Doping-Sumpf, sondern stolperte bereits seit 1998, als beim Spitzenteam Festina große Mengen verbotener Substanzen gefunden wurden, von Dopingskandal zu Dopingskandal. Inzwischen hat das Rennen sich zur Tour de Farce entwickelt. Einen Tag vor Beginn der Rundfahrt 2006 veröffentlichten die spanischen Behörden eine Liste mit über 50 Dopingverdächtigen, darunter auch der Deutsche Jan Ullrich. Nach der Tour wurde ausgerechnet der Gesamtsieger Floyd Landis positiv auf Testosteron getestet. Aufgrund des positiven Dopingbefunds bei dem deutschen Fahrer Patrik Sinkewitz brachen ARD und ZDF 2007 ihre Live-Berichterstattung ab, ganze Teams zogen ihre Fahrer aus dem Rennen ab.
Strychnin und Heroin
»Die Tour steht unter einem ständigen Dopingverdacht«, sagte damals ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender. Die Wahrheit ist: Diese Verdachtsmomente gab es schon immer. Das Doping ist noch älter als die Tour selber. Ohne Doping und Drogen kann die Tour de France überhaupt nicht funktionieren. Der Radsport ist die Disziplin mit den ersten registrierten Dopingfällen überhaupt – 1879 in der Sechstagerennen-Szene. Doping war damals ein übliches und akzeptiertes Mittel, um zum Sieg zu gelangen. Der Radsport war mit seinen geforderten Dauerleistungen eine der Wiegen des Dopings, wie man John Hobermans Buch Sterbliche Maschinen entnehmen kann:
»Diese Rennen, die von Montagmorgen bis Samstagabend dauern, setzen die Fahrer extremen körperlichen und psychischen Anforderungen aus. Folglich setzten viele Fahrer unterschiedliche stimulierende Präparate ein. Die Franzosen verwandten eine Mixtur, die als ›Caffeine Houdes‹ bekannt war, während die Belgier Zuckerstangen lutschten, die sie zuvor in Äther getaucht hatten. Der schwarze Kaffee, den die Radfahrer tranken, war mit zusätzlichem Koffein und Pfefferminz noch verstärkt, und je weiter das Rennen voranschritt, desto mehr wurde diese Mischung zusätzlich mit Kokain und Strychnin gewürzt. Häufig wurde dem Tee auch Brandy beigefügt. Im Anschluss an die Sprintabschnitte des Rennens wurden den Radrennfahrern häufig Nitroglyzerin-Kapseln gegeben, um ihre Atembeschwerden zu lindern. Die Sechs-Tage-Einzelrennen wurden letztendlich durch Zweierrennen ersetzt, aber das Doping setzte sich unvermindert fort. Da Drogen wie Heroin oder Kokain in diesen Rennen von vielen Fahrern ohne Überwachung genommen wurden, waren Todesfälle durchaus im Rahmen des Möglichen.«
Doping ist so alt wie die Menschheit
Als 1903 die Tour de France begann, verfügte der Radsport bereits über erhebliche Dopingerfahrungen. »Heroin und Kokain waren übliche Mittel, um besonders bei den Radsport-Profi s die Leistungs- und Leidensfähigkeit zu steigern«, heißt es in einem Artikel zum Thema »Doping und Olympia« auf der arte-Website. Selbst das Erfrischungsgetränk Coca-Cola enthielt damals noch Kokain. Radsport und Doping gehörten also von Anfang an zusammen und entwickelten eine besonders enge, um nicht zu sagen: »natürliche« Verbindung. Das Doping aus dem Radsport herauszubekommen ist daher fast unmöglich, ohne den Radsport in der bekannten Form abzuschaffen. In Wirklichkeit ist Doping aber noch älter, nämlich so alt wie die Menschheit. Schon immer steigerte der Mensch seine Leistung mit hilfreichen Pflanzen und Substanzen. Und je weiter man in die Vergangenheit zurückblickt, desto wahrscheinlicher wird Doping – und zwar aufgrund des fehlenden Bewusstseins ebenso wie aufgrund der fehlenden Gesetze und Kontrollen. Im Altertum beispielsweise, als die Olympischen Spiele ins Leben gerufen wurden, gab es weder Drogengesetze, noch unterschied der Mensch so genau zwischen Drogen, Arzneien und Nahrungsmitteln. Alles, was half, war gut, sei es nun ein Nahrungsmittel oder eine Droge.
1926, als die Tour de France mit über 5.700 Kilometern Streckenlänge 1.500 Kilometer länger war als heute, gab es kaum Gesetze oder Problembewusstsein. Von Kontrollen ganz zu schweigen. 40 weitere Jahre lang, bis 1966, musste kein Tourfahrer befürchten, zur Ader gelassen zu werden oder in einen Becher pinkeln zu müssen. Der erste Dopingtest bei der Tour de France soll am 28. Juni 1966 in Bordeaux durchgeführt worden sein, wobei mehrere Radler angeblich auf Einstiche von Injektionsnadeln untersucht wurden und Urinproben abgaben. Aus Protest hätten die Fahrer am nächsten Tag ihre Räder auf den ersten Metern der Etappe geschoben. Tatsache ist: Wenn sich Menschen gegenseitig mit dem Fahrrad über Tausende von Kilometern über Berg und Tal jagen, um für sich und andere Millionen zu erwirtschaften, kann das wohl kaum ohne chemische Hilfsmittel funktionieren. Schon gar nicht, wenn jemand die Tour zwei‑, drei‑, vier‑, fünf- oder gar sieben Mal in Folge gewinnt, wie der Amerikaner Lance Armstrong.
Die »Rollende Apotheke« lässt grüßen
Durchforstet man die Tour-Geschichte, fällt auf: Bis 1955 gehörten Mehrfachsieger zu den Ausnahmen. Den ersten Dreifachsieger in Folge gab es erst 1953 mit Louison Bobet. Der nächste Kettensieger, der Franzose Jacques Anquetil (viermal in Folge, fünfmal insgesamt) gab der Wahrheit die Ehre, indem er erklärte, man solle bloß nicht glauben, solche Leistungen seien nur mit Mineralwasser zu erreichen. Mit Anquetil gab es endgültig zwei Siegergruppen bei der Tour de France: Seriensieger und Übergangssieger. Auf Anquetil folgten die Seriensieger Eddie Merckx, Bernard Hinault, Miguel Induráin und schließlich der siebenfache Toursieger in Folge Lance Armstrong. Sie besetzten das Siegertreppchen jahrelang und schafften es, nicht einen einzigen anderen Gewinner in ihre Siegesserie einbrechen zu lassen. Wie soll das möglich gewesen sein? Warum wurde die Heterogenität der Sieger ab etwa 1955 plötzlich durch diese merkwürdige Homogenität abgelöst?
Dass selbst Übergangssieger wie Jan Ullrich, der überhaupt nur einen Tourgewinn erzielte, in Dopingverdacht gerieten, spricht Bände. Wie sollen dann erst die Kettensieger ihre Leistungen erbracht haben? Legendäre Fahrer wie Bernard Thévenet und Eddy Merckx sollen denn auch ebenso auf Doping zurückgegriffen haben wie der Deutsche Rudi Altig, dessen Initialen R.A. in der Branche auch mit »Rollende Apotheke« übersetzt wurden.
Tortour de France
Die Durchschnittsgeschwindigkeit der Toursieger stieg von etwa 25 Stundenkilometern 1903 auf etwa 33 Stundenkilometer 1953. Bis etwa 1960 kam es zu einem steilen Anstieg auf 37 Stundenkilometer. Mitte der siebziger Jahre zeigte der Trend wieder abwärts. Ab Mitte der achtziger Jahre erfolgte ein weiterer, steiler Anstieg der Sieger-Durchschnittsgeschwindigkeit, die mit den knapp 42 Stundenkilometern von Lance Armstrong einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Eine enorm hohe Durchschnittsgeschwindigkeit, wenn man bedenkt, dass die drei Wochen und 3.500 Kilometer lange Tor-Tour zum Teil durch Hochgebirge führt.
Anzunehmen, die Tor-Tour de France funktioniere ohne irgendwelche »unnatürlichen« Hilfsmittel, ist mehr als blauäugig – und zwar auch von Medien und Zuschauern. Der Irrsinn liegt nicht im Doping, sondern in der Tour de France selbst.
Mit Material aus: Wisnewski: verheimlicht – vertuscht – vergessen 2007
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Gerhard Wisnewski
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