(4.4.2011) Die Meinungsmache hat um sich gegriffen, sich in die Anti-Gaddafi-Front einzureihen ist Konsens. Wer kann denn ernsthaft für diesen durchgeknallten, grell kostümierten Gaddafi, wie man ihn von vielen Bildern kennt, Partei ergreifen? Darf man gegen die jungen, hoffnungsfrohen „Rebellen“ (nach anderer Lesart wären es wohl „Terroristen“?) Stellung beziehen? Man darf! Und ich meine, man muss sogar, wenn man Libyen kennt, wenn man dieses Land mehrmals ausgiebig bereist hat, wenn man die Menschen dort schätzen gelernt hat.
Von Angelika Gutsche
Diese Zeilen sollen nicht gegen die jungen Männer, darunter vielleicht auch der eine oder andere fromme Al-Kaida-Krieger, gerichtet sein, die wir täglich als tapfere Anti-Gaddafi-Kämpfer in den Medien präsentiert bekommen und die ebenfalls nur Opfer sind, verheizt für einen mehr als schwammigen Freiheitsbegriff, ohne jegliches politisches Konzept, an die Front geschickt für westliche Interessen in einem Bürgerkrieg, der die Teilung Libyens zum Ergebnis haben könnte.
Doch vorab ein paar Fakten zu Libyen:
Laut Wikipedia:
ist Libyen mit einem Human Development Index von 0,755 laut den Vereinten Nationen der höchstentwickelte Staat des afrikanischen Kontinents
ist in Libyen die medizinische Versorgung kostenlos
hat Libyen eine Witwen-, Waisen- und Altersrente eingeführt
besteht eine allgemeine Schulpflicht für Mädchen und Jungen zwischen sechs- und fünfzehn Jahren bei kostenlosem Unterricht
betrug die Lebenserwartung 74 Jahre (für afrikanische Verhältnisse ein Rekord)
wurde für 2008 8,8 % Wirtschaftswachstum erwartet (dürfte zwischenzeitlich noch höher gelegen haben, dank ausgeweiteter Handelsbeziehungen mit dem Westen).
Und weiter:
Laut Fischer Weltalmanach hat Libyen das höchste Pro-Kopf-Einkommen Afrikas.
Im amnesty international report 2010 schneidet Libyen relativ gut ab
Und auch bei der Christenverfolgung scheint sich Gaddafi weit zurückhaltender zu geben als andere islamische Länder (allen voran das dem Westen Verbündete Saudi Arabien). Libyen findet sich im open doors Index (Forum gegen Christenverfolgung) auf Platz 25.
Bei Transparency International liegt Libyen auf Rang 146 von 178, immerhin noch vor Ländern wie Russland oder Kenia (übrigens nehmen Afghanistan und Irak nach jahrelangen Kriegen fast die allerletzten Plätze in dem Ranking ein).
Entwicklungsprojekte für ganz Afrika…
In Libyen soll es angeblich auch Arbeitslosigkeit geben. Doch das ist sehr schwer vorstellbar bei der Menge von überdurchschnittlich gut bezahlten Gastarbeitern aus aller Herren Länder, die in Libyen in Brot und Arbeit stehen. Auf unseren Reisen erklärte uns ein Libyer: „Wir sind reich, wir müssen nicht arbeiten. Wir ziehen lieber mit unseren Kamelen durch die Wüste.“ Taucht dieser Libyer in der Arbeitslosenstatistik auf?
Und noch ein paar Fakten zur Wirtschaft: Aktuell werden – beziehungsweise jetzt muss man jetzt wohl leider sagen wurden – in Libyen zwei neue Schienennetze gebaut, einmal eine küstennahe Verbindung zwischen Tunesien und Ägypten und eine fast tausend Kilometer lange Strecke durch die Sahara in Richtung Niger.
Mit dem „Great-Man-Made-River-Projekt“ startete Gaddafi das bisher größte Süßwasserprojekt der Welt zur systematischen Förderung der eiszeitlichen Süßwasservorkommen in der Sahara (Wikipedia). Das Wasser wird aus den Tiefen der Sahara in die dicht besiedelten Küstenstädte geleitet, das ist aus ökologischen Gründen aber nicht unumstritten. Gaddafi hat also im Gegensatz zu anderen Staatslenkern durchaus auch etwas für die Entwicklung seines Landes getan, genauso wie er Lebensmittel und Konsumgüter subventioniert und für den Liter Sprit um die zehn Cents verlangt. Davon zeugten die langen Schlangen von Tunesiern an der tunesisch-libyschen Grenze, die in Gaddafi-Land günstig einkauften, um die Waren jenseits der Grenze wieder zu verhökern. Der kleine Grenzverkehr war ein einträgliches Geschäft.
Grosse Ölvorkommen
Doch das Herausragende an Libyen dürfte natürlich sein Ölvorkommen sein. Während das Land in der Menge des geförderten Erdöls nur an 18. Stelle steht, liegt es bei der Menge seiner noch ausbeutbaren Ölreserven weltweit an siebter Stelle (wikipedia.org). Das weckt Begehrlichkeit in einer nach immer neuen Energiequellen hungernden Welt, in der just dieser Tage auch die Atomkraft als Energie-Alternative äußerst fragwürdig geworden ist.
Vielleicht ist Gaddafis Zeit wirklich abgelaufen, sein System nicht in die Zukunft zu retten. Sein totalitäres Herrschaftssystem wird in den Medien gegeißelt, die sich in einer groß angelegten Propaganda-Allianz im Schulterschluss üben. Manches davon, was man Gaddafi vorwirft, mag zutreffen, mehr noch mag der Meinungsmache geschuldet zu sein. Unbestritten ist, dass seine Herrschaft totalitär (auch wenn er selbst der Meinung ist, überhaupt keine Macht zu haben, weil er keine Ämter habe und somit auch nicht zurücktreten könne – was einer gewissen Logik nicht entbehrt) und Meinungsfreiheit nicht gewährleistet ist. Trotz alledem ist Gaddafis Libyen nicht in eine Reihe zu stellen mit Mubaraks Ägypten oder Ben Alis Tunesien, da die Rahmenbedingungen all dieser Länder viel zu unterschiedlich sind – wie übrigens in allen Ländern des Nahen Ostens, die gerade im Aufruhr sind, jeweils nicht vergleichbare Ausgangspositionen und politische Gegebenheiten herrschen.
Gaddafi sollte nicht unterschätzt werden
Gaddafi wird als skrupellos charakterisiert – aber ist das nicht ein Merkmal, wenn auch nicht ein besonders schönes, etlicher Herrscher in aller Welt? Bestimmt hat sich der libysche Machthaber, der seine Ziele wirklich nicht gerade zimperlich durchzusetzen pflegt, auch viele Feinde geschaffen. Man mag den exzentrischen Gaddafi also durchaus als bizarre Persönlichkeit mit ausgeprägtem Machtinstinkt betrachten, aber ist es wirklich gerechtfertigt, ihn als das absolut Böse zu stigmatisieren, das es um jeden Preis zu beseitigen gilt? Erinnert das nicht auch an die Kampagne, die einst gegen Saddam Hussein gefahren wurde? Und sollte man sich nicht fragen, ob die Tausenden von Toten, die der Irakkrieg inzwischen gekostet hat und die Zerstörung eines ganzen Landes wirklich die Absetzung von Saddam Hussein wert waren?
Allen am Anti-Gaddafi-Krieg beteiligten Staaten kann man wünschen, den libyschen Machthaber nicht zu unterschätzen. Er hat immer noch eine große Gefolgschaft, nicht nur im eigenen Land, sondern auch in den Staaten Afrikas. So beteiligten sich vor wenigen Tagen 10.000 Menschen an einem Pro-Gaddafi-Marsch in Bamako, der Hauptstadt Malis. Und auch im Tschad erfreut er sich dank der dem Land gewährter Geldspenden großer Unterstützung (SZ vom 1.4.11). Die im saharischen Länderdreieck Mali – Niger – Libyen beheimateten Tuareg konnten stets auf Gaddafis Hilfe zählen. Auch dies dürfte sich für ihn nicht gerade negativ auswirken, unter anderem im Hinblick darauf, dass die großen Schmuggeltrassen nicht nur für Waffen vom Süden kommend durch die Sahara verlaufen und somit die Schiffsblockade Libyens im Mittelmeer sicher ein netter Versuch, aber kaum besonders wirkungsvoll sein dürfte.
Bomben für die Demokratie?
Man kann Gaddafis „Grünes Buch“ als naiv und verworren belächeln oder es wohlwollender als einen Versuch betrachten, in einem ölreichen, islamischen Wüstenstaat einen auf basisdemokratischen Strukturen basierenden arabischen Sozialismus beruhend auf dem Vorbild des Ägypters Nasser zu installieren. Man kann aber keineswegs Gaddafi und seine aktuelle, durchaus westwärts gewandte Politik als Begründung für Kampfeinsätze der Nato verwenden, die allein am Samstag, den 2. April siebzig (!) Kampfeinsätze geflogen hat. Seit Beginn der Nato-Mission am 31. März seien insgesamt 218 Luftschläge gezählt worden, berichtet SZ-Online vom 4.4.11. Wie viele Menschenleben kosten diese Einsätze? Rechnen nur die zu bedauernswerten Toten, die von Gaddafis Truppen getötet werden, während die Toten der Nato-Angriffe unter Kolateral-Schäden laufen? Wer oder was wird hier bombardiert? Bomben als Argumente für Demokratie? Wie lange werden die afrikanischen und arabischen Staaten diesen Krieg, der in altbekannter Kolonialmanie einem afrikanischen Staat seine Regierung vorschreiben will, noch gutheißen? Kann dieses wahnsinnige Bombardement eines prosperierenden Landes durch irgendetwas gerechtfertigt werden? Was würde die Welt sagen, wenn der Vorschlag gemacht würde, Kalabrien und Sizilien zu bombardieren, um die Mafia zu beseitigen? Die Verhältnismäßigkeit der Mittel würde zu Recht in Frage gestellt. Und welches Blutvergießen wird es erst geben, wenn die Rebellen wirklich versuchen – wohl auch noch mit von den USA gelieferten Waffen – Tripolis einzunehmen? Denn bekannter Weise leben mindestens siebzig Prozent der Libyer in und um Tripolis und ein Großteil von ihnen dürfte durchaus auf Seiten Gaddafis stehen.
Es stellt sich die Frage, wie es der Allianz aus USA, Großbritannien und Frankreich überhaupt gelungen ist, die Mehrheit der UN auf ihre Seite zu ziehen oder wenigstens zu Stillschweigen sprich Enthaltungen zu bewegen. Welche Süppchen werden da hinter den Kulissen gekocht, welche Strippen gezogen?
Die Geheimdienste mischen natürlich fleißig mit. So ist es eine durchaus undurchsichtige Geschichte, wie es um die Gesinnung des libyschen Außenministers Mussa Kussa steht, der laut Großbritannien übergelaufen sein soll, laut der englischen Daily Mail dazu aber vom britischen Geheimdienst genötigt wurde, während er in Geheimmission in Gaddafis Auftrag in London war (Ticker Online-Ausgabe SZ v. 31.3.11). Und welche Rolle spielt die CIA bei dieser Rebellion? Bekannt ist, dass sie im Osten Libyens wohl seit längerem agiert. Vermutlich hat aber wieder einmal die USA die Lage völlig falsch eingeschätzt. Wurde angenommen, dass sich die Menschen im Land nach einer Initialzündung gemeinsam gegen Gaddafi erheben und sich dem „Aufstand“ anschließen werden – und nicht wie geschehen mit ihren Körpern Gaddafis Palast zu schützen versuchten und einen Marsch nach Bengasi organisierten? Ist die CIA ihrer eigenen Propaganda aufgesessen? Wer hätte gedacht, dass dieses Irak-Schema so schnell schon wieder funktioniert, doch diesmal in Gang gesetzt vom Friedensnobelpreisträger Obama, der endlich seinen eigenen Krieg hat.
Man will keine friedliche Lösung
Und nicht zuletzt soll auf den Auftrag der UN verwiesen werden, die besagt «… Flugverbotszone sowie die Einhaltung des Waffenembargos zu überwachen und die Zivilbevölkerung zu schützen.» Von einer einseitigen kriegerischen Parteinahme in einem Bürgerkrieg ist hier nicht die Rede, auch nicht davon, Rebellen auszubilden und zu bewaffnen. Daneben werden alle Angebote über Verhandlungen, inzwischen angeregt von Venezuela, Russland, Griechenland und der Türkei, ignoriert. Man will keine friedliche Lösung, man will keine Verhandlungslösung, man will Krieg, man will Öl und man will Gaddafis Kopf.
Dies ist ein ausgesprochen dummer Krieg, angezettelt von USA, Großbritannien und Frankreich, direkt vor den Türen Europas, nur wenige Seemeilen von Malta, Zypern und den italienischen Inseln entfernt. Er wird uns mehr bewegen als die Kriege in Afghanistan und im Irak, nicht alleine durch die nun einsetzenden Flüchtlingsströme aus Afrika. Und wie wird alles enden? Zu befürchten ist, dass aus diesem Krieg nur Verlierer und ein zerstörtes Libyen hervorgehen werden.
Dabei wäre es doch so wünschenswert, dass uns bei Libyen nicht mehr die Namen von Kriegsschauplätzen einfielen, sondern wieder die Namen der einzigartigen Naturschönheiten wie Akakus-Gebirge und Mandara-Seen oder der wunderbaren Kulturdenkmäler wie das antik-römische Leptis Magna oder das alt-griechische Kyrene. Und nicht zuletzt sei gedacht der vielen gastfreundlichen Menschen, die uns auf unseren Reisen durch Libyen begegneten und die hoffentlich bald wieder in Frieden in ihrem Land leben können.
Nachtrag:
Gleich zu Beginn des Konflikts in Libyen ging durch die Schlagzeilen, dass fast alle europäischen Staaten „Gaddafis-Gelder“ eingefroren hätten, dass es sich dabei nicht um das Privatvermögen des Gaddafi-Clans, sondern um libysche Staatsgelder handelte, ging dabei unter. So hatte Libyen unter anderem viel Geld in Italien angelegt, zum Beispiel als Beteiligungen bei Banken oder beim Autokonzern Fiat. Wohlgemerkt: Es handelte sich dabei um libysche Staatsfonds, nicht um Privatgelder Gaddafis. Stellt man sich nun die Frage, wieso sowohl Frankreich als auch Italien so schnell bereit waren, die Aufständischen in Libyen als reguläre Vertretungen des Staates Libyen und damit eine de facto nicht vorhandene Rebellenregierung anzuerkennen, obwohl der Ausgang des Bürgerkriegs noch völlig ungewiss scheint, gäbe es dafür natürlich eine mögliche Erklärung. Könnte dies damit zusammenhängen, dass libysche Gelder für eine anerkannte libysche Regierung – also die Rebellenregierung – freigegeben werden könnten, zum Beispiel, um damit Waffen in den USA zu kaufen? So würden mit libyschen Staatsgeldern Rebellen bewaffnet, um gegen die libysche Regierung zu kämpfen. Sollte diese Rechnung von Sarkozy und Berlusconi wirklich aufgehen?
Von Werner Schlegel
Der 10. April könnte als Tag der nichtüberraschenden Überraschungsmeldungen in die Mediengeschichte eingehen. Fangen wir mit Matthias Platzecks Rücktritt vom SPD-Vorsitz an, der einige überrascht haben soll. Mich keineswegs. Und nicht etwa, weil mich bei dieser blassrosa angestrichenen Sturmtruppe des Neoliberalismus ohnehin nichts mehr verblüffen kann. Es gab vielmehr genügend Leute in der Partei, die schon lange vor Platzecks zweitem Hörsturz von seiner bevorstehenden Ablösung wussten. Sonst hätte ich das nicht eine Woche vor dessen Krankenhauseinlieferung von einem SPD-Mitglied erfahren, das Kontakte zur Fraktionsspitze hat. «Platzeck soll weg und Beck der Nachfolger werden», lautete die Nachricht. Der Grund wurde gleich mitgeliefert: «Münte will Beck, weil der voll auf seiner neoliberalen Linie liegt». Ach so. Dann dürfen wir sicher jetzt schon raten, welchen Aufsichtsratsposten der Sauerländer nach einem vorzeitigen Ende der Großen Koalition einnehmen wird. Bei RAG und RWE, den führenden Ent- und Versorgungsanstalten für Politiker des Ruhrgebietes, sind sicher noch ein paar warme Plätzchen frei. Mit seinem zum neoliberalen Klassiker avancierten Zitat «Zur Wirtschaft gehört Demokratie mit bei», hat sich das schwarzrosa Fränzchen bereits ausreichend dafür qualifiziert.
Die zweite Meldung kam aus Frankreich: Nach wochenlangen Protesten eines Großteils der Bevölkerung – hierzulande gerne verharmlosend als «Schüler- und Studentenproteste» bezeichnet – ist das neue Arbeitsmarktreformgesetz gescheitert. Das konnte eigentlich nur eine bestimmte Sorte des deutschen Michel – also die Mehrheit – überraschen: Alle, die immer noch glauben, die neoliberale Reformpolitik sei sakrosankt und mit Stillhalten, Wahlverweigerung, Faust-in-der- Tasche-Ballen und dem unsolidarischen Motto «Jeder für sich und Gott gegen alle» ließe sich die Herrschaftselite irgendwie beeindrucken. April, April – und guten Weiterschlaf. Wirklich überrascht wurden hingegen die meisten in diesem Lande gestern und heute von ihren Mainstreammedien. Lasen, sahen und hörten sie doch Knall auf Fall, dass die völkerrechtswidrigen und kriegsverbrecherischen Angriffspläne der US-Regierung gegenüber dem Iran nicht nur weit fortgeschritten sind, sondern auch den Einsatz taktischer Atomwaffen (sogenannter «Mininukes» oder Gefechtsfeld-A-Waffen») einschließen. Um die Dimension zu verdeutlichen, die hinter den verharmlosenden militärischen Sprachschöpfungen steckt: Die kleinste dieser Waffen verfügt über die fünffache Sprengkraft der Hiroshimabombe.
Nicht überrascht von dieser Meldung wurden die Leser dieser Website. Hier wurde schon seit Monaten wiederholt über die US-Pläne geschrieben. Zuletzt am vergangenen Freitag. Mit dem Hinweis auf die seit Wochen anhaltende Taktik von Zerrspiegel-Online, seine Leser scheibchenweise auf einen solchen Angriff vorzubereiten. Auch diese dürften also vom Inhalt der auf Seymour Hersh zurückgehenden Meldung nicht allzu sehr überrascht gewesen sein. Schon eher von ihrer kaum zu überbietenden Deutlichkeit.
Offensichtlich gab es aber noch eine ganze Menge Nichtüberraschter: Die Redakteure und Moderatoren in den Mainstreammedien. Die meisten von ihnen taten nämlich so, als sei eine Angriffsplanung mit Atomwaffen das Natürlichste der Welt. So erklärte der Brainwashington-Korrespondent des Deutschlandfunks, Dirk Buschschlüter, in den «Informationen am Mittag»: Der Chef der als Regierung getarnten Gang im Brutal Office habe doch schon vor Wochen laut und deutlich erklärt, dass die iranische Regierung «den Weltfrieden gefährde» und «man Israel auf jeden Fall schützen werde». Respekt, Herr «Kollege». Georg Orwell wäre begeistert von ihrem Auftritt gewesen. Jetzt gefährdet bereits die iranische Regierung – und nicht mehr nur ihr angebliches Atomwaffenprogramm – den Weltfrieden. Und irgendwie ist mir sicher auch entgangen, dass Iran Israel mit einem Angriff gedroht hat? Mir scheint, Buschschlüters Geographiekenntnisse sind nicht die besten. Jenes Land, das den ohnehin ziemlich durchschusszernarbten Weltfriedensschild bedroht, liegt in einer ganz anderen Region der blauen Kugel. Oder um es mit den Worten eines Alt-Bundespräsidenten zu sagen: «Wer mit dem Zeigefinger auf andere weist, sollte daran denken, dass dabei stets drei Finger auf ihn selbst zeigen». (Für alle, denen die deutsche Politikgeschichte nicht mehr ganz geläufig ist: Das Zitat stammt von Gustav Heinemann, dem meines Erachtens letzten echten Bundespräsidenten, vor Installation der Endlosschleife präsidialer Abziehbilder).
Kurz und schlecht: Überrascht wurde an diesem 10. April eigentlich nur, wer nach den Meldungen einen Sturm der Entrüstung im bundesdeutschen Medienwald erwartet hätte. Der blieb aus, sieht man einmal von den «üblichen Verdächtigen» wie Junge Welt oder Linkszeitung ab. Stattdessen weinte die WILD-Zeitung über unser derzeit offenbar größtes Problem, den Sturz des deutschen Fußball Dschingis Kahn. Ein Ruhrgebietsblatt sah in den Angriffsplänen gar den Anlass zu einer besonders «humorvollen» Karikatur: Ein Faxgerät in einem Atomlabor spuckt ein Blatt mit Bushkonterfei und der Überschrift «Bush plant Atomschlag gegen Iran» aus. Worauf der iranische Präsident zu zwei turban- und schutzhelmbewehrten Laborangestellten sagt: «Beeilung Leute, wir kriegen Besuch». Was haben wir gelacht.
Lassen wir alle Hinweise auf moralische Verkommenheit, kriecherische Feigheit und was einem sonst noch alles an adäquaten Etikettierungen einfallen mag, ob dieser Medienhaltung, einmal beiseite. Seien wir nur von einem überrascht: Welch abgrundtiefer Masochismus hat sich eigentlich in einem Volk herausgebildet, das eine derartige Meldung in seinen Massenmedien mit stummer Ergebenheit hinnimmt? Das war denn selbst für mich eine Überraschung. Ich hoffe aber noch immer, dass mich die Ostermärsche (einst eine machtvolle Demonstration aller Friedensbewegten im Lande) eines Besseren belehren werden. Es ist schon schlimm genug, einem Volk der Dichter und Henker anzugehören. Volksmasochismus aber sollte dort ausgelebt werden, wo er hingehört: Bei der nächsten erreichbaren Domina. Oder wurde da schon wieder etwas verwechselt – bei der Wahl von Frau Merkel?
Gerhard Wisnewski
c/o Kopp Verlag, Bertha-Benz-Str.
72108 Rottenburg a.N.