In Deutschland kann jedermann jederzeit verschwinden und hinterher als »Selbstmörder« aufgefunden werden. Das war die Lehre aus dem Tod der Jugendrichterin Kirsten Heisig. Nicht doch. Zum Glück haben jetzt zwei WDR-Autorinnen investigativ recherchiert und herausgefunden: Es war eindeutig Selbstmord. Na, dann ist ja alles in Ordnung. Heute Abend läuft ihr Film »Tod einer Richterin« in der ARD. Gerhard Wisnewski sah ihn vorab…

Von wegen »herausgefunden«. Interessanterweise ist »Selbstmord« nicht das Ergebnis, sondern die Voraussetzung des Films. »Ihr Tod beschäftigt das ganze Land«, sagt noch vor dem Filmtitel die Sprecherin über das Ableben von Kirsten Heisig im Sommer 2010. »Es kursieren Spekulationen von Entführung und Mord. Nach Tagen der Suche steht fest: Kirsten Heisig hat Selbstmord begangen.«
Das war’s dann. Das mit der »Recherche« war daher natürlich ein Scherz. In Wirklichkeit setzt sich die »Dokumentation« mit keinem Wort mit den angeblichen Ermittlungsergebnissen der Staatsanwaltschaft und den kriminalistischen Fakten auseinander, die deshalb nach wie vor lauten: Der Fundort der Leiche im Tegeler Forst war nicht der Todesort. Daher handelte es sich um Mord. So lautet das Ergebnis der Analyse eines Kriminalbeamten, der die Auskunft der Berliner Staatsanwaltschaft über die Todesumstände Heisigs unter die Lupe nahm. Und dieses Ergebnis kann jedermann anhand der Dokumente selbst nachvollziehen.
Bezeichnenderweise drückt sich der Film darum, sich auch nur ansatzweise mit den
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kriminalistischen Fakten auseinanderzusetzen, sondern gibt den »Selbstmord« von Kirsten Heisig als Glaubenssatz an den Zuschauer weiter. Vielsagend ist auch das Schweigen der Angehörigen von Kirsten Heisig: Nachdem es offenbar keine Sachargumente gegen einen Mord gibt, hätten nur noch sie mit glaubwürdigen Einblicken in den seelischen Zustand von Kirsten Heisig einen Selbstmord ergründen können.
Doch auch damit kann der Film nicht aufwarten. Aus journalistischer Sicht fehlt es dem Streifen daher bereits an der »raison d’etre« – journalistisch gesehen hat er einfach nichts zu bieten, sodass man sich fragt, was die WDR-Redaktion damit eigentlich wollte, ausser Propaganda zu machen.
Das Ganze ist lediglich ein Zusammenschnitt aus zwei Zutaten: alten Aufnahmen von Kirsten Heisig und einer Reihe von Interviews mit näheren oder ferneren Bekannten. Aber auch hier gelingt es dem Film nicht, die Selbstmordthese zu fundamentieren; zwar klingt hier und da etwas von Selbstmord an, allerdings arbeitet der Film damit hoffnungslos gegen die eigenen starken O-Töne über eine lebensbejahende Frau an:
»Da wäre ich nicht drauf gekommen, dass sie in ihrem Kopf bewegt: Ich bringe mich um«, sagt beispielsweise gleich als erstes Arnold Mengelkoch, Migrationsbeauftragter von Neukölln. »Das war mir ganz fremd – ist es mir heute noch.«
»Umso unbegreiflicher, wenn jemand so vital und so tatkräftig wie sie war, also so klare Ziele hatte«, rätselt auch die Schriftstellerin und Heisig-Bekannte Monika Maron. »Und eben gerade so erfolgreich war.«
Er habe sie »nie depressiv erlebt«, sagt Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister von Neukölln.
Er habe sie »immer nur nach vorne schauend, experimentierfreudig, hoch engagiert, furchtlos« erlebt. Als er von dem Selbstmord erfuhr, war da »eher Unglaube […], weil sie nicht für mich der Mensch war, der dazu neigt, den Freitod zu wählen.«
Warum auch? Wie bei einem Mord braucht man auch für einen Selbstmord ein Motiv. Und während Mordmotive in Sachen Heisig schon lange im Raume stehen, scheitert der Film auch da, wo es um ein plausibles Selbstmordmotiv geht. Das wäre dann schon das dritte wesentliche Element, an dem es dem Film mangelt. Wo die wirklichen Konfliktlinien verliefen, wird dagegen sehr deutlich.
»In einer deutschen Verwaltung gegen den Strom zu schwimmen, ist ein sehr, sehr schwieriges Unterfangen«, gibt der Migrationsbeauftragte Mengelkoch zu bedenken. »Da braucht man schon eine Menge Courage oder einfach ein ganz gutes Netzwerk oder beides.« Einmal war er selbst dabei, berichtet Buschkowsky, »als ein Sprecher der Jugendrichter sie vor versammelter Mannschaft – mit der politischen Ebene der Stadt und der Polizeiführung – madig machte, dass das alles überhaupt nicht erforderlich sei, dieser Wirbel, den sie veranstaltet mit den beschleunigten Verfahren. Dass das alles längst bekannt und gute Übung in der Stadt sei und sie da so richtig in die Pfanne gehauen hat.« »Wir haben Recht zu sprechen, aber wir haben uns nicht um die Veränderung der Welt zu bemühen«, sagt Jugendrichter Andreas Müller über die Situation in der Justiz. Sie habe sich »mit diesem Überengagement […] nicht nur Freunde gemacht«, berichtet Önder Kurt vom Berliner »StoP«-Jugendprojekt. »Sie ist auch Menschen auf die Füße getreten.«
Klar – aber wem? Den Arabern? Den Türken? Bestimmt fiel sie, wenn, dann einem dieser »Clans« zum Opfer. Denn da war ja auch diese »Antistimmung«, wie sich Mengelkoch erinnert. Doch während die deutschen Interviewpartner in dem ganzen Film seltsam distanziert bleiben, sind es interessanterweise ausgerechnet die Türken, denen die Stimme versagt und deren Trauer spürbar wird: »Sie hat als erste Richterin, die in einem hohen Amt sitzt, zu den Kriminellen den Kontakt auch gesucht. […] Und davon bräuchten wir mehr, und das war die einzigste […]«, sagt ein türkischer Vater, bevor ihm die Stimme wegbleibt. »Leider hat sie sich umgebracht«, fährt er dann fort, »aber sie lebt immer noch in uns, in unserem Herzen, und dieses soziale Engagement, das sie uns beigebracht hat, wollen wir weiterführen.«
Und schlagartig wird einem an diesem Beispiel klar: Resozialisierung und Versöhnung sind im
Grunde unerwünscht. Kirsten Heisig führte Gruppen zusammen und baute Spannungen ab. Dabei sind gerade Spannungen gefragt: Das »ausländische Verbrechen« wird als Hammer benutzt, um die deutsche Gesellschaft zu zerschlagen – wobei übrigens auch der Hammer kaputtgeht. Die Richter sollen dabei ihre Arbeit machen und die Klappe halten – vor allem sollen sie ausländische Kriminelle nicht wirklich abschrecken oder erziehen, so wie Heisig das praktiziert hat. Heisig störte nur, vor allem, weil sie zum bundesweiten Vorbild für das Justizsystem zu werden drohte.
Nichts da, kämpft der Film tapfer gegen diese eindeutigen Eindrücke und O-Töne an: »Kirsten Heisig verausgabt sich – bei Gericht, in Neukölln. Dann fängt sie auch noch an zu schreiben: ein Buch über ihre Arbeit – und versucht immer, ihrem Mann und ihren Töchtern gerecht zu werden«, suggeriert die Dokumentation ein Selbstmordmotiv, das untergeht, bevor es überhaupt zum Tragen kommen kann. Sie sei ein lebensfroher Mensch gewesen, berichtet ein Kollege von lustigen Abenden »in der Eckkneipe«. Sie habe auch gerne getanzt, erzählt Migrationsbeauftragter Mengelkoch. Reiseprogramme hat sie so eingerichtet, dass sie auch noch im Londoner Pub ihr Fußballspiel angucken konnte, erinnert sich Buschkowsky.
Halt – da war ja schließlich noch die Trennung von ihrem Mann, einem Oberstaatsanwalt. »Eine nicht verheilte Wunde« mutmaßt Monika Maron. Im Filmkommentar wird daraus eine »seelische Not«, die niemand wahrnimmt. Im Nachhinein habe er erfahren, dass sie im Jahre 2008 schon einmal einen Selbstmordversuch unternommen habe, erzählt Buschkowsky. Aber: »Ich habe von diesem Teil ihres damaligen Lebens nichts mitbekommen«. Erstaunlich, denn »das war schon in einer Zeit, wo ich schon sehr gut mit ihr bekannt war und sehr enge Kontakte zu ihr hatte.«
Aber »weder im Vorfeld noch hinterher« habe er etwas davon mitbekommen. Diesen Teil ihres Ichs habe sie wohl »perfekt versteckt«. Vielleicht – vielleicht aber auch nicht. Denn einen Selbstmordversuch unternimmt man nicht wie einen Gang zum Zahnarzt oder zum Friseur. Vielmehr ist ein Selbstmordversuch wie der tiefste Punkt eines Kraters, zu dem ein langer Abhang hinab- und auch wieder von ihm hinaufführt. Also ist es eher unwahrscheinlich, dass die Geschichte überhaupt stimmt.
Aber »bei allem Erfolg wird es wohl immer einsamer um Kirsten Heisig«, spekuliert der Film weiter. Ihr Leben überfordere sie und andere, wissen die Autorinnen. Ja, mehr noch: »Die Anzeichen für ihren Erschöpfungszustand werden übersehen.« Vielleicht, weil es keine gab? Nicht doch: »Niemand merkt, wie sie des Lebens müde wird.« Aber schon wieder hagelt es O-Töne, welche diese subtile Selbstmordthese ad absurdum führen. Kurz vor ihrem Tod während der Fußball-WM 2010 ging Heisig noch auf die Fanmeile, um das Spiel gegen Ghana zu sehen – geschminkt »wie ein kleines Fanmädchen«. Danach habe man noch getanzt, erinnert sich Kollege Müller.
Seine letzten Kontakte zu Kirsten Heisig seien die Kontakte zu einer Frau »in einer emotionalen Hochstimmung« gewesen, sagt Bezirksbürgermeister Buschkowsky. »Sie freute sich unheimlich über den Abschluss der Arbeiten an ihrem Buch. Sie freute sich auf den September. Es stand fest, wann das Buch veröffentlicht werden wird. Sie freute sich auf Reaktionen auf ihr Buch. Und ihr war völlig klar, dass ihr Buch auch Reaktionen auslösen würde, weil es spricht ja auch eine klare Sprache. Also, sie war beruflich auf dem Höhepunkt.«
Mit dem letzten O-Ton, den man sich zweifellos gut aufgehoben hat, versucht der Film ein letztes Mal das Ruder herumzureißen und der so schwer verfälschbaren Geschichte von Kirsten Heisig endgültig den Stempel »Selbstmord« aufzudrücken. Sie hätten ja auch über Suizid gesprochen, seufzt da Kollege Andreas Müller etwas zu vernehmlich in die Kamera: über »Tabletten nehmen«. »Im Nachgang war sie suizidal«, folgert Müller forsch ex post facto. Nach dem Motto: Wer Selbstmord begangen hat, der muss irgendwie auch selbstmordgefährdet gewesen sein – nur inwiefern, weiss man nicht genau. An Tabletten gestorben ist sie übrigens auch nicht.
Tod einer Richterin
Auf den Spuren von Kirsten Heisig
ARD
Mittwoch, 09.03.11, 22:45–23:30 (45 Min.)
Copyright © 2011 Das Copyright für die Artikel von Gerhard Wisnewski liegt beim Autor.
Von Gerhard Wisnewski
Ein ganz normaler Tag auf CNN: kühl dreinblickende Blondinen, professionelles News-Stakkato, geschmeidige Moderationen, knackige Trailer, unten ein Band mit den neuesten Meldungen. Und dann natürlich das Wetter von Riga. Riga? Ich reiße die Augen auf: Tatsächlich steht da statt des CNN-Logos plötzlich RT im linken oberen Eck des Fernsehers. RT? Was soll das denn nun wieder sein?
Gerade wollte ich mein Bewußtsein mit dem selbstgefälligen TV-Manna aus USA mal so richtig einnebeln lassen, da bin ich in die Hände von wer weiß wem gefallen. Eben will ich ein Kruzifix oder wenigstens eine Knolle Knoblauch rausholen, da sagt die kühle Blonde: «Hello and welcome from Russia to the world.»
Der Russe ist in meinem Wohnzimmer.
Es ist der neue 24-Stunden-Nachrichtensender Russia Today, der nach Europa, Nordamerika, Afrika und Asien sendet. Und natürlich im Internet: http://www.russiatoday.ru/onair.html. Bei dem Wort «Lift Off» sieht man hier keinen Shuttle abheben, sondern eine Sojus-Rakete. Bei einer Raumfahrt-Ausstellung sieht man nicht das vertraute Mondauto der Amerikaner, sondern ein Lunochod-Mondfahrzeug in bester Russen-Optik. Weitere Themen: Gerhard Schröder im Aufsichtsrat von Gasprom, eine Lawine in Sibirien, ein Space-Festival zu Ehren Juri Gagarins, eine Frau in Moskau, die ihre Wohnung bei ihrer Heimkehr besetzt vorfand, eine russische Miss Universe, die gegen Aids kämpft.
Nun ist ein russisches CNN vielleicht auch nicht objektiver als das amerikanische – aber es ist eine andere Perspektive. Statt sich CNN und seine deutschen Ableger ständig wie Milch und Honig reinzuziehen, sollte man sich vielleicht mal einen Blickwinkel zu Gemüte führen, der nicht von jenseits des Atlantiks stammt, sondern von exakt demselben Kontinent, auf dem wir auch sitzen. Die Ziele des 539 Leute starken Senders «bestehen darin, Informationen über Rußland zu präsentieren, den Zuschauern die Gelegenheit zu geben, sich mit russischen Perspektiven von heimischen und internationalen Ereignissen vertraut zu machen», heißt es auf der Webseite von Russia Today. «Der Hauptteil der Sendezeit ist russischen und Weltnachrichten gewidmet, Business- und Sport News ebenso wie heutzutage so populären Dokumentationen über das gegenwärtige Leben in Rußland und seine Geschichte.»
Wenn man sich das aber mal eine Weile anschaut, befällt einen angesichts dieser perfekten CNN-Kopie der üble Verdacht, es könnte sich doch nur um einen Ableger des amerikanischen Propagandasenders handeln. Nun, Propaganda mag ja stimmen, aber dann wohl doch russische Propaganda. Russia Today ist ein Gemeinschaftsunternehmen von Russian News und der Nachrichtenagentur Nowosti.
Gerhard Wisnewski
c/o Kopp Verlag, Bertha-Benz-Str.
72108 Rottenburg a.N.