Das muss man erst mal fertigbringen: Das Video mit den Schüssen an der Absturzstelle von Smolensk verbreitet sich wie ein Virus über das ganze Internet. Die Schüsse sind überdeutlich zu hören. Staatsanwälte ermitteln. Auch die »Bild«-Website zeigt das Video – allerdings ohne die Schüsse und ohne sie auch nur zu erwähnen …
Spuren an Tatorten, Wracks, in Bildern und Informationen zu suchen, ist das eine. Wie ich bereits früher geschrieben habe, gibt es noch eine andere Möglichkeit, nämlich das von der offiziellen Propaganda dargebotene »Negativ« zu entwickeln bzw. durch Projektion ein Positiv herzustellen. Wie das geht? Im Prinzip ganz einfach: Keine Lüge oder Verdrehung steht alleine für sich im luftleeren Raum, sondern in einer Beziehung zur Wahrheit. In der Lüge oder Verfälschung ist also auch die Wahrheit enthalten, nur eben verdreht oder – indirekt – indem die Lüge ein Negativ der Wahrheit darstellt. Der einfachste Fall: Manche Lügen entfernen sich zum Beispiel möglichst weit von der Wahrheit. Stellt man sich also die am weitesten entfernte Alternative zu einer Lüge oder wahrscheinlich falschen Version vor, könnte man bereits nah an der Wahrheit liegen. Man kann also die Spuren von Lügen oder Propaganda lesen. Man kann feststellen, was verschwiegen und verdreht werden soll. Das ist zwar kein Beweis, aber ein Hinweis.
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Schüsse an der Absturzstelle
Bild schneidet bei Sekunde 14 …
Ein besonders schönes Beispiel lieferte heute die Bild-Website ab. Dort wird das neue Video mit den Schüssen am Absturzort der Maschine von Polens Präsident Kaczynski zwar auch gezeigt, aber nur 14 von 83 Sekunden. Dieses Video sei im Internet aufgetaucht, es zeige das Flugzeugwrack kurz nach dem Absturz, heißt es im Sprechertext. Dann hat man es ganz eilig, zur offiziellen Version zu kommen. Schon nach sieben Sekunden erklärt der Sprecher – noch auf den Bildern vom Absturzort –, laut der russischen Nachrichtengentur Interfax spräche eine erste Auswertung der Flugschreiberdaten für einen Pilotenfehler. Es folgt ein Schnitt, und weg ist man von dem Video aus dem Wald – direkt auf einem Bild einer startenden Tupolew. Möglicherweise, man höre und staune, seien die Piloten des polnischen Präsidenten nicht mit den Besonderheiten dieses östlichen Allerweltsflugzeuges vertraut gewesen.
Und dann fertigt Bild schon mal das Urteil aus: »Der Pilot hat die Befehle der Fluglosten in Smolensk ignoriert; wegen der schlechten Sicht sollte er einen anderen Flughafen ansteuern«, sagt der Sprecher zu einer Animation des Flugzeuges auf einer Landkarte. Außerdem verdichteten sich die Hinweise, dass der Pilot von Präsident Kaczynski unter Druck gesetzt worden sein könnte, eine Landung zu versuchen.
Ein solcher Zusammenschnitt ist natürlich kein Zufall. Jeder Redakteur der Welt muß inzwischen wissen, dass das Spannendste auf dem Video vom Absturzort noch kommt, nämlich die Schüsse. Hätte man das Video von der Absturzstelle weiterlaufen lassen, wären sie überdeutlich zu hören gewesen.
Aber es gibt ja noch den Artikel unter dem Video: »Brennende Flugzeugteile liegen im Gras, Rauch steigt auf, Menschen laufen aufgeregt zwischen Bäumen und Trümmern umher. Dieses Amateurvideo zeigt den Ort des Flugzeugabsturzes in Smolensk (Russland)«, heißt es da. Und dann zitiert Bild verschiedene Rufe aus dem Wald (ob korrekt übersetzt, sei jetzt mal dahingestellt): »Der Mann, der offenbar das Video aufgenommen hat, schreit auf Russisch: ›Oh, mein Gott!‹ und noch einmal ›Oh, mein Gott!‹ Ein anderer Mann ruft aus dem Hintergrund: ›Lasst uns zurück gehen, wieder zurück, alle Mann!‹«
Obwohl zwischen diesen Rufen die Schüsse fallen, werden sie von Bild nicht erwähnt. Stattdessen hämmert der Artikel dem Leser ein: »Ein Pilotenfehler muss der Grund für das Drama gewesen sein.«
Wenn Sie mich fragen: Dümmer geht’s eigentlich kaum noch. Plumper kann man kaum noch etwas verschweigen. Der Vorgang weist in meinen Augen darauf hin, dass man in der Redaktion der Bild-Website den Schüssen nicht neutral gegenübersteht, sondern dass man sie absichtlich unterschlagen hat. Und das wiederum weist darauf hin, dass es für die Schüsse eben keine harmlose Erklärung gibt.
Wie schreibt doch Polskaweb.eu am 15. April 2010 so treffend: »Russische und deutsche Medien melden, dass die Piloten der abgestürzten Tupolew Schuld an ›dem Unfall‹ gehabt haben sollen. Diese Aussage hat der leitende polnische Militärstaatsanwalt, der heute nach Warschau zurückkehrte, noch nicht bestätigt. Er spricht gar von gewagten Spekulationen der russischen Presse, die ausländische Spekulanten mit sich ziehen würden.«
Polskaweb werde seine Leser demnächst ausführlicher über ein mögliches, »sehr gewichtiges Motiv für einen Anschlag« auf die politische Gruppe an Bord der Tu-154M informieren. Leider gebe es zumindest »erste Hinweise« darauf, »dass möglicherweise nicht alles mit rechten Dingen bei der Tragödie zuging«.
Copyright © 2010 Das Copyright für die Artikel von Gerhard Wisnewski liegt beim Autor.
Von Gerhard Wisnewski
Ich habe hier schon öfter auf die Problematik eines Internetforums hingewiesen, das den megalomanen Anspruch erhebt, eine «Enzyklopädie» zu sein: Wikipedia. Bei keinem anderen, der Willkür, der Anonymität und den Interessen seiner Nutzer ausgelieferten Forum käme irgendjemand auf die Idee, dies als «Lexikon» zu betrachten. Im Gegenteil: In Wirklichkeit sind Internetforen mit ihren anonymen Urhebern die unzuverlässigsten und voreingenommensten Quellen, die es überhaupt gibt.
Und tatsächlich gerät das Wikipedia-Forum immer wieder in die Negativ-Schlagzeilen. Warum? Weil es unzuverlässig oder manipulierbar ist? Nein: es ist nicht besser oder schlechter, als jedes andere Forum auch – also schlecht. Ein Forum ist die freie Wildbahn für Informationen. Ein Skandal entsteht nur deshalb, weil dieses Forum vorgibt, ein «Lexikon» zu sein. Ein klassischer Fall von Etikettenschwindel. Jüngstes Beispiel: Fleißige Angestellte des amerikanischen Kongresses haben in Hunderten von Fällen systematisch die Inhalte der angeblichen «Enzyklopädie» nach Gutdünken und zum Vorteil ihrer jeweiligen Abgeordneten manipuliert.
Mal verschönerten sie die Biographien ihrer Abgeordneten, mal wurde der politische Gegner diffamiert und beleidigt. Und mal wurde ganz einfach die Geschichte umgeschrieben. Immer wieder im Zentrum elektronischer Wiki-Fehden: die Attentate des 11. September 2001. Genau, wie diese Ereignisse auch in der deutschen Wikipedia gern im Sinne der offiziellen Bush-Propaganda umfrisiert werden, legten auch in den USA beflissene Propagandisten Hand an den entsprechenden Artikel.
Die Aufregung ist nun groß, die manipulierten Artikel wurden, so gut es geht, wieder «berichtigt» – doch was ist hier eigentlich «objektiv» oder gar «richtig»? Nichts, natürlich. Denn eine «Enzyklopädie» mit einem unübersehbaren Stab an anonymen und undurchsichtigen Mitarbeitern, die aus nicht nachvollziehbaren Quellen und Interessen schöpfen, ist der worst case des enzyklopädischen Gedankens und von Haus aus eine Mißgeburt. Als Enzyklopädie ist Wikipedia gefährlich und auf jeden Fall zum Scheitern verurteilt.
Also: Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.
http://www.spiegel.de/netzwelt/politik/0,1518,398357,00.html
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Gerhard Wisnewski
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