Wie bereits berichtet*, erklärte die »Bild-Zeitung« vor wenigen Tagen, woran man ein Missbrauchsopfer erkennt – um noch am selben Tag einen krassen Fall von sexuellem Missbrauch zu übersehen, nämlich in einem Artikel über die Künstlerin Nina Hagen. Darin beschrieb »Bild«, wie Hagen laut ihrer neuen Autobiografie als Zwölfjährige mit Tabletten und Alkohol gefügig gemacht worden war und zählte das einfach zu deren »wildem Leben«. Bleibt die Frage: Woran erkennt man nun wirklich, ob jemand missbraucht wurde oder wird? Oder gar man selbst? Denn nicht immer kann man sich daran erinnern …
»BILD.de erklärt, woran Sie erkennen können, ob Ihr Kind missbraucht wurde«, nimmt das Trash-Blatt Bild-Zeitung am 16. März 2010 nassforsch das Thema Missbrauch in die Hand und befragt eine Expertin der Hilfsorganisation »Dunkelziffer e.V.«. Ergebnis:
– am Meiden eines früher beliebten Ortes;
– daran, dass sich das Kind zurückzieht;
– am Klagen über Bauch- und/oder Kopfschmerzen;
– am verstärkten Reinlichkeitsbedürfnis;
– und ganz allgemein an Verhaltensänderungen.
Das war’s in dem Artikel. Wenn das so ist, wird die Dunkelziffer wohl auch in Zukunft ziemlich hoch bleiben. Diese bescheidene Liste ist in Wirklichkeit gefährlich. So wiegen sich Opfer und deren Angehörige in falscher Sicherheit.
In Wirklichkeit entfalten sexueller Missbrauch und sexuelle Gewalt einen komplexen, aber auch spezifischen Strauß von Symptomen, die auf den ersten Blick häufig nichts mit Sex zu tun haben. Stichwort »Sonderling«: Missbrauch kann sich hinter ganz bestimmten merkwürdigen, bizarren und/oder auffälligen Verhaltensweisen verstecken. Der Missbrauch resultiert beim Opfer in einem bizarren und komplexen Persönlichkeitsprofil voller Macken, Ticks und Absonderlichkeiten, das man bei anderen, aber auch bei sich selbst entziffern kann. Kurz: Der Täter hinterlässt auf der Psyche und im Leben des Opfers quasi seinen schmierigen Fingerabdruck.
Fast jeder, der Opfer eines schwerwiegenden Ereignisses wird, egal, ob eines Verkehrsunfalls, einer Gewalttat und/oder sexuellen Missbrauchs, entwickelt eine PTSD (Post Traumatic Stress Disorder, deutsch: Posttraumatische Belastungsstörung). Man könnte auch sagen: Eine traumatische Schockreaktion.
Im Rahmen einer Traumatischen Schockreaktion kommt es häufig zu einer Amnesie. Das heißt, dass sich auch viele Missbrauchsopfer nicht an das Geschehen erinnern können. Zweitens: Je nach dem, um welche Art Schock (Unfall, Kneipenschlägerei, Missbrauch etc.) es sich handelt, wird der Schock sozusagen »thematisch geprägt«. Vereinfacht gesagt: Der eine bekommt beim Autofahren plötzlich nasse Hände, der andere kann keine Kneipe mehr betreten, der nächste meidet Orte, an denen er Kleidung ablegen muss (Zeichen für Missbrauch).
Das Gute ist: Den schmierigen Fingerabdruck des Täters oder der Täterin auf der Psyche und dem Leben des Opfers kann man lesen. Die oben extrahierte Liste der Bild-Zeitung ist allerdings viel zu grob – ungefähr so, als würde die Polizei an einem Tatort nicht einen ganzen Fingerabdruck, sondern nur ein paar Linien sichern.
Dabei war und ist die Forschung in diesem Punkt schon seit vielen Jahren viel weiter. Allerdings nicht hierzulande. Auf die beste mir bekannte Beschreibung der Folgen sexuellen Missbrauchs stolperte ich im Rahmen einer Recherche vor etwa zwölf Jahren auf den Seiten der amerikanischen Kinderhilfseinrichtung Covenant House. Dort ist sie nicht mehr vorhanden, aber dafür hier.
Demnach ist das Leben von Opfern emotionalen und sexuellen Missbrauchs zusätzlich zu dem oben Gesagten geprägt durch:
– Schuld/Scham
– Furcht/Angst
– Selbst-Beschuldigung/Unzufriedenheit
– Hilflosigkeit, Ohnmacht
– Unfähigkeit, nein zu sagen
– Schwierigkeiten, sich selbst zu pflegen
– Mangel an Vertrauen in die eigenen Wahrnehmungen und Gefühle
– emotionale Verschlossenheit oder »Taubheit«
– Unfähigkeit, die positiven Aspekte des eigenen Selbst zu sehen
– Perfektionismus
– Abspaltung der Psyche vom Körper
– Kontrolle unter allen Umständen
– Gefühl, unsichtbar zu sein
– Probleme, Zuneigung zu geben oder zu empfangen
– Schwierigkeit, sich auf andere zu verlassen
Zu den körperlichen Symptomen sexuellen Missbrauchs können gehören:
– körperliche Symptome ohne medizinische Ursache
– das Gefühl, vom eigenen Körper getäuscht und/oder abgestoßen zu sein
– Zurückweichen oder -zucken vor Berührungen
– Schlafstörungen
– im eigenen Körper nicht »gegenwärtig« sein
– Verweigerung der Erfüllung körperlicher Bedürfnisse
– hohe Schmerztoleranz
– Essstörungen
– Drogen- und/oder Alkoholabhängigkeit
– Selbstmordgedanken/-Verhaltensweisen
– Selbstverletzung
Beziehungsprobleme:
– Idealisierung, Überbewertung oder Unterbewertung anderer oder des eigenen Selbst
– demütigende Interaktionen
– Bindungsangst
– Schwierigkeiten, sich und anderen in intimen Belangen zu vertrauen
– selbst auferlegte Isolation oder übermäßige Bedürfnisse an andere
– Duldung von missbräuchlichen Mustern
– Dreiecksbildung in Beziehungen
– seelische und körperliche Aufopferung für andere
– Duldung von beleidigenden, kränkenden Beziehungen
– missbrauchen oder missbraucht werden
Sexuelle Symptome können beinhalten:
– Unfähigkeit, Sex, Liebe, Intimität zu unterscheiden und/oder zu kombinieren
– Verwirrung der sexuellen Orientierung
– Gewalt- oder Sado-Maso-Fantasien/-Verhaltensweisen
– ungewollte Schwangerschaften/Abtreibungen
– Verlust des sexuellen Verlangens
– sexuelle Ausbeutung durch Prostitution
– genitale Taubheit
– Sexualisierung aller Beziehungen
– Schmerzen beim Geschlechtsverkehr
– Schuldgefühle bei sexuellem Vergnügen
– Gewissheit, dass der einzige Wert des eigenen Selbst im Sexuellen liegt
– Unfähigkeit, allein oder mit einem Partner einen Orgasmus zu haben
– eindringliche Flash-Backs von Zwangs-Sex
– Wechsel zwischen sexueller Enthaltsamkeit und zwanghaftem Sex
– tiefer Hass auf den Körper und seine sexuellen Reaktionen
– sexuell übertragbare Krankheiten
– immer wieder Opfer sexueller Gewalt werden
Zu den Auswirkungen von sexuellem Missbrauch auf das Verhalten können gehören:
– hyperaktives, hyper-wachsames Verhalten
– impulsives Beginnen oder Beenden von Beziehungen
– zwanghaftes Geldausgeben, Stehlen, Lügen, Spielen oder Arbeiten
– gefährliches Risiko-Verhalten
(Nach: »Aching For Love« von Mary Anne Klausner and Bobbie Hasselbring.)
Es versteht sich von selbst, dass ein oder wenige Symptome noch gar nichts besagen müssen. Wer sich durch dieses Profil aber angesprochen oder »erkannt« fühlt oder andere in ihm wiedererkennt, sollte hellhörig werden. Möglicherweise empfiehlt sich der Gang zu einem fähigen Psychologen, der wirklich mit Trauma- und Missbrauchsbehandlung Erfahrung hat.
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* http://info.kopp-verlag.de/news/bild-zeitung-sexueller-missbrauch-wildes-leben.html
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