Wie sich die Ereignisse doch gleichen: Zwei »islamistische« Brüder verüben einen Terroranschlag, fliehen im Auto, liefern sich eine Schießerei mit der Polizei und nehmen eine Geisel. Hatten wir das nicht schon mal? Und ob: Und zwar Mitte April 2013, als die beiden angeblichen Bomben-Attentäter von Boston von der Polizei gejagt wurden. Rein zufällig begann kurz vor den Anschlägen von Paris der Prozess gegen den Überlebenden der beiden, wobei der schon mal auf »nicht schuldig« plädierte. Dank des Anschlages auf Charlie Hebdo bekommt das freilich niemand mehr mit − von der frappierenden Ähnlichkeit der Ereignisse einmal ganz zu schweigen …

Die Medien haben ihr Urteil schon gefällt: Wer flieht, ist schuldig. Die beiden angeblich flüchtigen Brüder Sharif, 32, und Said, 34, Kouachi seien »Massenmörder«, hieß es am 9. Januar 2015 in einem Bericht von N24. Eine mittelalterliche »Rechtsprechung« und eine fragwürdige Logik. Am 7. Januar 2015 sollen die beiden die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo überfallen und dabei zwölf Menschen erschossen haben.
Doch wer da jetzt flieht und warum, ist überhaupt nicht sicher. Vom Tatort in der Charlie-Hebdo-Redaktion gibt es keine forensischen Informationen. Über den gesamten Ort des Geschehens herrscht Stillschweigen: Keine Erkenntnisse, keine Obduktionsberichte der Opfer − nichts. Über die Tatortarbeit und Spurensicherung dringt nichts nach außen.
Findet sie überhaupt statt oder stehen auch für die Behörden die Schuldigen schon fest? Vielleicht, weil sie ohnehin nicht überleben und ein Prozess damit nicht stattfinden wird? Und: Darf man solche Fragen im neuen Mittelalter nach dem 11.9.2001 überhaupt stellen, oder liefert man sich damit ebenfalls dem Lynchmob aus Medien und Behörden aus? Denn ein Mob, der lynchen will, der lyncht auch.
Wie sagte doch Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve: »Es läuft ein Einsatz, um die Verantwortlichen des feigen Attentats vor zwei Tagen zu neutralisieren« (tagesschau.de, 9.1.2015). Mit anderen Worten geht es um die Todesstrafe ohne Urteil − was beweist, dass die Sicherheitsbehörden diejenigen sind, vor denen sie uns schon immer gewarnt haben. Und dass sie genau das tun, was sie anderen vorwerfen.
Der einzige Link
Die einzige Verbindung zwischen dem Anschlag auf Charlie Hebdo und den beiden Flüchtigen scheint auch zwei Tage nach der Tat lediglich der Ausweis zu sein, der in einem Fluchtauto »vergessen« wurde. Der gesamte Fahndungsbereich außerhalb von Paris wurde weiträumig abgesperrt. Für Journalisten gibt es kein Durchkommen, also keine Chance, sich ein eigenes Bild zu machen.
Was in der Natur der Sache liegen mag − aber Tatsache bleibt, dass es sich bei dem, was die Journalisten aufgeregt nachplappern, um eine exklusive Erzählung der »Sicherheitsbehörden« handelt. Die journalistischen Berichterstatter lassen sich von der Dramaturgie der Polizei vor sich hertreiben, ohne zum Nachdenken zu kommen. Sofern das überhaupt jemand will.
Boston 2.0?
Rein zufällig läuft in den USA gleichzeitig (nämlich seit dem 5. Januar 2015) der Prozess gegen den überlebenden angeblichen Boston-Attentäter Dschochar Zarnajew. Am 15. April 2013 soll Zarnajew zusammen mit seinem Bruder Tamerlan Zarnajew zwei Bomben beim Boston Marathon gezündet haben, wobei mehrere Menschen ums Leben gekommen beziehungsweise verletzt worden sein sollen. Der derzeitige Prozess wäre eigentlich ein Top-Medienthema, doch seit den Anschlägen auf Charlie Hebdo vom 7. Januar 2015 in Paris redet kein Mensch mehr davon.
Stattdessen werden die damaligen Ereignisse durch eine ganz ähnliche Dramaturgie aus den Schlagzeilen verdrängt. Bevor der letzte Amoklauf dieser Art also öffentlich aufgearbeitet werden kann, wird mit globalem Getöse bereits eine »fast baugleiche Sau« durchs Dorf getrieben. Im Moment interessiert sich niemand mehr für die Boston-Attentate und die Gebrüder Zarnajew.
Auf Google News ist der letzte Bericht über den Zarnajew-Prozess drei Tage alt. Danach hörte die Berichterstattung demzufolge schlagartig auf (Stand 9.1.2015, 13:05 Uhr). Der älteste Online-Bericht über die mutmaßlichen Attentäter von Paris ist dagegen gerade mal 36 Minuten alt − wobei das Fernsehen natürlich rund um die Uhr sendet.

Google News: Seit dem 6. Januar keine Berichte mehr über den Boston-Prozess
Vielleicht sollte man sich aber weiterhin für den Boston-Prozess interessieren, denn dieser hielt oder hält womöglich so manche Sensation bereit, die den globalen Medien sowie den Terror- und »Sicherheitsbehörden« gar nicht in den Kram passen kann. So hat der angeblich hundertprozentig schuldige Dschochar Zarnajew bei Prozessbeginn am 5. Januar auf »unschuldig« plädiert − was man von einem fanatischen, schuldigen Islamisten kaum erwarten würde.
Und selbst in den Medien regten sich − bevor Charlie Hebdo kam − leise Zweifel: »Ist er am Ende gar unschuldig?«, fragte selbst Focus Online (5.1.2015).
Das wäre freilich ein Desaster für Medien und Sicherheitsbehörden, und zwar global. Denn auch über die Boston-Attentate war schließlich global berichtet worden. Und ebenso global waren die Zarnajew-Brüder vorverurteilt worden. Denn schließlich gehört es zu den »vornehmsten Errungenschaften« der Welt nach dem 11.9.2001, Verdächtige vor einem Verfahren öffentlich schuldig zu sprechen.
Wie ein Ei dem anderen …
Die beiden Operationen von Mitte April 2013 in Boston und Anfang Januar 2015 in Paris gleichen sich wie ein Ei dem anderen:
Die Ähnlichkeit solcher Terror-Operationen ist nicht neu. Geheimdienste und »Sicherheitsbehörden« wickeln immer wieder dieselben Szenarien ab.
Das berühmteste Beispiel ist wohl die Operation Northwoods, die als Vorlage für die Attentate des 11.9.2001 diente und seither auf die eine oder andere Weise immer wieder neu »aufgeführt« wird.
Es gibt aber noch andere Fälle, zum Beispiel die zum Verwechseln ähnlichen Entführungen des deutschen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer durch die RAF 1977 und des italienischen Politikers Aldo Moro durch die Roten Brigaden 1978:
Und nicht zu vergessen: Beide Terrorgruppen wurden von den Geheimdiensten unterstützt …
Die Grafik zu Beginn des Artikels stammt von dem französischen Komiker Dieudonné M’Bala M’Bala
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Gerhard Wisnewski
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